Wirtschaft in der Transformationsphase und Folgen des Zins-Regimewechsels
Carsten Mumm, Chefvolkswirt bei DONNER & REUSCHEL
Die Zinsentwicklung bleibt auch in den nächsten Monaten der maßgebliche Treiber für die Kurse an den internationalen Börsen und zunehmend auch für die Realwirtschaft. Der Zins-Regimewechsel 2022 beendete den fast 40-jährigen Trend sinkender Zinsen. Auch 2023 ging zunächst mit steigenden Renditen einher, bis dann Ende September die Zinsen von Staats- und Unternehmensanleihen nachgaben. Dieser Trend dürfte sich über den Jahreswechsel hinaus fortsetzen, denn die anhaltend schwache globale Konjunktur sowie die Aussicht auf weiter sinkende Inflationsraten in den kommenden Monaten lässt die Hoffnung auf früher als bisher erwartete Leitzinssenkungen voraussichtlich weiter steigen.
Die Weltwirtschaft dürfte im kommenden Jahr mit weniger als 3 Prozent ein im historischen Vergleich schwaches Wachstum aufweisen. Dabei bleibt die Region Südostasien mit erwarteten Wachstumsraten von rund 5 Prozent ein Zugpferd, wobei die chinesische Wachstumsdynamik mit voraussichtlich ca. 4 Prozent etwas hinterherhinkt. Gebremst wird die globale Entwicklung allerdings von vielen Industriestaaten. In den USA deutet sich für die kommenden Quartale eine konjunkturelle Abkühlung an, in der auch eine kurzzeitige Rezession nicht unwahrscheinlich ist. Trotzdem dürfte das Wachstum der US-Volkswirtschaft im Gesamtjahr 2024 wohl noch höher ausfallen als in der Eurozone, in der es nach einer sehr schwachen Entwicklung in 2023 zumindest zu einer leichten Verbesserung kommen sollte. Deutschland dürfte selbst im europäischen Kontext auch im kommenden Jahr – zusammen mit Italien und Großbritannien – das Schlusslicht bilden. Da vonseiten der exportorientierten Industrie nur eine sehr langsame Dynamisierung zu erwarten ist, liegen die zaghaften Hoffnungen auf einer Aufwärtsbewegung kurzfristig beim privaten Konsum angesichts steigender Realeinkommen im Zuge hoher Lohnabschlüsse und gleichzeitig sinkender Inflation. Staatsinvestitionen dürften hingegen aufgrund der durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 entstandenen Budgetrestriktionen geringer ausfallen.
Fehlende Impulse für eine stärkere Belebung der Weltwirtschaft dürften weiterhin dafür sorgen, dass die Energie- und Rohstoffpreise trotz Rohöl-Förderkürzungen der OPEC+-Staaten nicht nennenswert steigen sollten, und dürften den Preissteigerungsdruck mindern. Zudem sind viele Unternehmen in einem Umfeld allgemein schwacher Nachfrage zunehmend weniger in der Lage, ihre Margen stabil zu halten und auch die aktuell sehr hohen Lohnabschlüsse dürften künftig wieder maßvoller ausfallen. Damit hätten die Notenbanken die Möglichkeit, die Zinszügel etwas zu lockern. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die US-Notenbank Fed schon im Frühjahr eine Leitzinssenkung beschließen wird – auch weil sie durch die im November anstehende Präsidentschaftswahl unter zeitlichen Zugzwang geraten könnte. Denn zu nah am Wahltermin hält sich die Fed in der Regel zurück, um möglichst keinen Einfluss zu nehmen. Insgesamt sind bis zu vier Leitzinssenkungen in den USA denkbar. Auch in der Eurozone könnte sich eine erste Leitzinssenkung schon im Laufe des zweiten, spätestens aber im dritten Quartal konkretisieren. Weitere Zinsschritte nach unten bis zum Jahresende bleiben unter der Annahme einer schwachen Konjunkturentwicklung wahrscheinlich.
Risiken für eine schwächere Entwicklung bestehen vor allem aufgrund weiterer Eskalationen geopolitischer Konfliktfelder und – eng damit zusammenhängend – im Falle unerwartet stark steigender Rohölpreise. Diese würden den erwarteten Inflationsverfall dann verlangsamen. Eine Chance auf positive Überraschungen könnte hingegen aus dem zuletzt wieder konstruktiveren Umgang zwischen China und den USA resultieren. Zumindest kurzfristig ist davon auszugehen, dass weder US-Präsident Joe Biden noch der chinesische Staatschef Xi Jinping ein Interesse an einer weiteren Verschärfung der gegenseitigen Rivalitäten haben. Zu offensichtlich sind die negativen Effekte, bspw. von gegenseitigen Sanktionen, auf beide derzeit schwächelnden Volkswirtschaften.
Die Aussicht auf weiter nachgebende Marktrenditen und im Jahresverlauf sinkende Leitzinsen dürfte die globalen Aktienmärkte auch im kommenden Jahr beflügeln, auch wenn aufkommender Margendruck das Potenzial voraussichtlich etwas dämpfen wird. Allerdings sind die Bewertungen vieler Aktien durch die Konsolidierung von besonders konjunktur- und zinssensitiven Branchen in den letzten Monaten mittlerweile nicht mehr überzogen. Auf Indexebene haben die Standardwerteindizes der Industrienationen daher ein Kurssteigerungspotenzial von bis zu 10 Prozent. Generell kann aber für die kommenden Jahre erwartet werden, dass Staaten und Unternehmen sehr viel in die Verbesserung ihrer Resilienz investieren werden, konkret in den Umbau von Lieferketten, die eigene Sicherheit, die Energieversorgung, die Infrastruktur und in Maßnahmen, um dem Klimawandel zu begegnen. Davon werden viele, aber nicht alle Unternehmen überdurchschnittlich profitieren, weshalb eine Einzeltitelselektion bedeutender werden dürfte.
Für den Wechselkurs des Euro um Vergleich zum US-Dollar sind vor allem die Wachstums- und die Zinsdifferenzen zwischen den Währungsräumen relevant. Bei beiden Relationen ist mit einem nachlassenden Vorsprung der USA zu rechnen. Entsprechend gehen wir von einer Aufwertung des Euro im Jahresverlauf 2024 aus.
Sowohl sinkende Zinsen als auch ein schwächerer Dollar sprechen für eine anhaltend hohe Nachfrage nach Edelmetallen, insbesondere Gold. Zusammen mit voraussichtlich weiter zunehmenden Goldkäufen vieler Zentralbanken ergeben sich daher gute Chancen auf weiter steigende Kurse.
Nicht zuletzt dürften auch Krypto-Anlagen von der erwarteten Zinsbewegung profitieren. Zudem steht im Frühjahr beim Bitcoin das Halving – also die Halbierung der Entlohnung für das Minen eines neuen Bitcoins – auf der Agenda. In der Vergangenheit wurde der Kurs dadurch regelmäßig angetrieben. Auch die mögliche Zulassung von Bitcoin-ETFs in den USA würde die Etablierung von Krypto-Anlagen zu einer verbreiteten Anlageklasse weiter befeuern.