Wir stagnieren. Vielleicht ist es auch besser so!
Hans Peter Schupp, Vorstand der Fidecum AG und Portfoliomanager des Contrarian Value Euroland Fonds über die Skurrilität, dass negative Ereignisse das Wachstum beflügeln.
In Deutschland wird die Lage der Wirtschaft mit Argusaugen betrachtet. Wie stark wächst sie? Wie stark steht sie unter Druck? Um 0,1 Prozent soll sie in diesem Jahr wachsen, so sie Bundesregierung. Oder geht sie weiter zurück? Alles wird gemessen am Bruttoinlandsprodukt. Aber ist das die richtige Kennziffer?
Krieg als Treiber des Bruttoinlandprodukts
Es erscheint paradox: Trotz des Krieges in der Ukraine übertraf das Wachstum des russischen Bruttoinlandsproduktes im Jahr 2023 das Wachstum fast aller G7 Staaten. Und dass, obwohl Sanktionen und kein Zugang zum Großteil der globalen Märkte die wirtschaftlichen Aktivitäten behindern.
Die Frage ist: Entsteht dieses Wachstum trotz oder aufgrund des Krieges? Und wenn wirklich Krieg, Umweltkatastrophen usw. unstreitig negative Ereignisse sind, die eine Volkswirtschaft belasten, wie können sie hier Treiber für das BIP sein? Hier stellt sich ganz einfach die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Bruttoinlandsprodukts.
Berechnung und Folgen
Aber zurück zur Entstehung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung: Ernsthaft hat sich die VWL erst nach der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts damit beschäftigt. Man versuchte zu errechnen, wie negativ sich denn die Folgen dieser Krise auswirken. Später wollte US-Präsident Roosevelt die Erfolge seiner „New Deal“-Wirtschaftspolitik damit nachweisen.
Man nutze hierfür die heute sogenannte Verteilungsrechnung und schaute auf das Volkseinkommen, also das zusammengefasste Einkommen des Volkes. Also was die Leute in der Tasche haben: Löhne, Vermögens- und Unternehmenseinkommen.
Dummerweise entwickelte sich dieses nach 1941, dem Kriegseintritt der USA, nicht mehr so wie gewünscht. Das Geld wurde für den Krieg benötigt und stand daher der Bevölkerung nicht mehr zur Verfügung. Also brauchte man eine neue Kennzahl, die Wohlstand suggerierte, obwohl es der Bevölkerung schlechter ging.
Änderung der Methodik Wohlstand zu messen
Schon damals war bekannt, dass man die Leistung einer Volkswirtschaft auf drei Wegen ermitteln kann: Entstehung, Verteilung und Verwendung. So änderte man die Methodik ganz einfach von Verteilung auf Entstehung. Eine Vorgehensweise die bis heute gilt.
Von nun an stand nicht mehr das Einkommen, sondern die Produktion im Fokus. Das Ganze hatte den Charme, dass die Produktionszahlen in den Kriegsjahren gar nicht so schlecht aussahen, da Kriegsgerät, Waffen und Munition gebraucht und produziert wurden. Wie heute in Russland. Damit wurde aber auch die ursprüngliche Idee den Wohlstand einer Volkswirtschaft zu messen pervertiert.
Katastrophen als BIP-Katalysator?
Beispiel gefällig? Eine Massenkarambolage auf der Autobahn ist sicherlich nichts Schönes. Aber die Ausgaben für die Reparaturen oder den Neuwagenkauf, sowie der Einsatz der Abschleppfahrzeuge steigern das Bruttoinlandsprodukt. Wenn aber z.B. der Wideraufbau nach einem Erdbeben das BIP erhöht und die Steigerung des BIPs die Kerngröße ist, nach der wir Volkswirtschaften beurteilen, dann müssten wir uns ja solche negativen Ereignisse wünschen. Da das nicht der Fall ist, bleibt zumindest zu hinterfragen, ob das Wirtschaftswachstums die entscheidende Bezugsgröße zur Beurteilung einer Volkswirtschaft und das Hauptziel einer staatlichen Wirtschaftspolitik sein sollte.
Da sollten doch eher die Gewinne der Unternehmen im Vordergrund stehen, oder die Höhe der Arbeitslosigkeit und der Löhne. Daran orientieren wir uns auch bei der Zusammenstellung des Portfolios unseres Contrarian Value Euroland Fonds, aber nicht das BIP. Denn – und hier noch ein schönes Beispiel für die Skurrilität der Berechnungen: Warum geht meine Arbeitszeit, wenn ich mir ein Ei koche, nicht in das BIP ein? Bestelle ich es jedoch im Restaurant, ist die Zubereitung Bestandteil des Bruttoinlandsprodukts.