Stiftungssinn oder Sinnstiftung

von Prof. Volkmar Liebig, Ulm

Mit dem Begriff Stiftungen verbinden wir privatrechtliche Einrichtungen, die gemeinnützigen Zwecken dienen. Das hat einen guten Grund, denn etwa 95 Prozent aller Stiftungen sind – jedenfalls in Deutschland – gemeinnützig. Die Idee, etwas Dauerhaftes zu etablieren bzw. zu stiften, ist alt und wir kennen sie, seit in der Antike Platon seine Philosophenschule als Akademie vor den Toren Athens gegründet und gestiftet hat. Seine Stiftung bestand immerhin fast 800 Jahre.

Insoweit haben Stiftungen eine lange Tradition. Der jeweilige Stiftungssinn offenbart sich nicht immer auf den ersten Blick. Was ist das wahre Motiv zur Stiftungsgründung? Wahrscheinlich sind es stets mehrere Motive, die zum Gründungszeitpunkt zusammenkommen. Es werden intrinsische und extrinsische Impulse bzw. Gedanken sein. Ein Stifter oder eine Stifterin wird Anerkennung nicht verschmähen, weil Anerkennung auch als Bestätigung oder Kurskorrektur eigenen Handelns dient. Sinnvolles Handeln verdient Anerkennung. Gilt das auch heute noch?

Die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung ist die größte Stiftung der Welt. Der zu großem Vermögen gekommene Microsoftgründer Bill Gates hat mit seiner Frau die Stiftung gegründet, um als Stiftungssinn Impfprogramme weltweit zu unterstützen. Dazu gehört auch die Entwicklung von Impfstoffen. Die Stiftung hat durch diese Arbeit Einblick in die nationalen und supranationalen Aktivitäten. Bereits vor fünf Jahren hat die Stiftung vor möglichen Pandemien gewarnt. Jetzt haben wir eine Pandemie: Das Coronavirus.

Die Gates-Stiftung hat nach eigenen Angaben 300 Mio. Dollar in die Bekämpfung des Covid-19-Virus investiert. Die Warnung vor Pandemien und die Impfprogramme sind Sinnstiftungen der Gates-Stiftung. Diese Stiftungsaktivitäten sind offenbar der Stoff für Verschwörungstheorien. Es wird ein „Corona-Regime“ konstruiert, das die Weltbevölkerung reduzieren und eine „Gesundheitsdiktatur“ errichten möchte. Der Gates-Stiftung seien Virologen und Gesundheitspolitiker hörig. Durch Impfungen ließen sich Mikrochips zur Überwachung unter die Haut pflanzen. Die Warnung vor Pandemien sei lediglich die Ankündigung derartiger Maßnahmen. Es grassieren die krudesten Verschwörungstheorien. Ist es die Angst vor der Macht großer Stiftungen?

Selbstverständlich gibt es bei großen Stiftungen Anlass zur Kritik. Beispiel Mission Investing: Wenn eine Stiftung in Pharmaunternehmen investiert ist, die an kranken Menschen verdienen, ist es aus der Investmentsicht nicht logisch, als Stiftungssinn Impfprogramme zu initiieren, die diesen Pharmaunternehmen nicht zugutekommen. Teil einer Verschwörung, die ein Außenstehen-der nicht verstehen kann?

Der Gesetzgeber hat die Sinnstiftung von Stiftungen vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie erkannt und für den Stiftungserhalt und die Stiftungsarbeit befristet Erleichterungen erlassen. Stiftungen haben einen Stiftungssinn, der in Stein gemeißelt ist, aber sie können in Zeiten der Corona-Pandemie über die Sinnstiftung ihres Stiftungssinns selbst reflektieren. Sind alle Aktivitäten noch zeitgemäß?

Selbstreflexion ist kritisches Hinterfragen und Abwägen von Vor- und Nachteilen. Naiv unterstellen wir, dass jedes Ding zwei Seiten hat. Wirklich? Warum nur zwei Seiten? Fernöstliche Kulturen glauben, dass jedes Ding drei Seiten hat: Eine, wie ich es sehe, eine, wie du es siehst und eine, wie wir beide es nicht sehen. Krisen machen nachweislich Unternehmen innovativ, so wie wir in der Not erfinderisch werden. Und wie ist das bei den Stiftungen?