Ausblick auf 2021

Die Prognosen von EZB, Bundesbank, IWF und FED

Viele Wirtschaftsprognosen, die Ende 2019 für das Folgejahr erstellt worden sind, überlebten bereits den Blitzstart der Covid-19-Pandemie im Februar nicht. Das könnte die Motivation, einen Ausblick auf 2021 zu wagen, doch sehr dämpfen. Nur gut, dass professionelle Prognostiker frustrationstolerant sein müssen und dies in der Regel auch sind. Sie können sich schließlich berufsbedingt ihrer Pflicht schwer entziehen, für die Politik und die vielen anderen Interessenten Ausblicke in die Zukunft zu erstellen. Deshalb hilft den Vorhersage-Experten nur ein offensiver Umgang mit den eigenen Fehlprognosen, zumal es primär auf die relative Güte im Vergleich mit anderen Prognostikern und nicht auf die absolute Güte ankommt, für die ein allwissendes Wesen Benchmark wäre. Die offensichtlich robuste institutionelle und auch psychische Verfasstheit des Prognosegewerbes bringt uns in die angenehme Lage, unseren Ausblick 2021 auf neuere Schätzungen aus der Konjunkturforschung wie auch auf die jüngsten Finanzstabilitätsberichte von IWF (veröffentlicht am 13.10.), Bundesbank (13.10.), Fed (9.11.) und EZB (19.11.) stützen zu können.

Weltwirtschaft

Wachstumserwartungen

2020 stand ganz im Zeichen der Covid-19-Pandemie und der vielen massiven „Shutdowns“ weltweit, die nicht nur die Wirtschaft in den Würgegriff nahmen. Der IWF schätzte im Oktober, dass 85 Länder der Welt das zu Ende gehende Jahr mit einem Minus-„Wachstum“ abschließen werden. Die Ökonomen der OECD rechnen in ihrer jüngsten Prognose (vom Dezember) für 2020 mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 4,2 Prozent weltweit.

Dem starken Abwärtsschwung im Jahr 2020 folgt im Jahr 2021 aus Sicht der meisten Prognostiker ein kräftiger Aufholeffekt Richtung Vor-Corona-Zustand – aber nicht zwingend eine vollständige „Gesundung“. So gelangten etwa die deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem Gemeinschaftsgutachten vom Herbst zu der Einschätzung, dass Ende 2021 das globale Vor-Corona-Produktionsniveau noch nicht erreicht sein wird. Dennoch sollte sich, so die verbreitete Vorstellung unter Konjunkturexperten, die Wirtschaftsleistung im kommenden Jahr im Trend kontinuierlich verbessern; mit globalen Stilllegungen im Ausmaß des Frühjahrs 2020 rechnen die meisten Fachleute nicht mehr. Daran dürften auch die gegenwärtigen Lockdowns in Europa nicht allzu viel ändern, zumal die Impfstoffentwicklung bislang die Optimisten vom Frühjahr bestätigte. Ob aber alle daran geknüpften Hoffnungen realistisch sind, wird der Jahresrückblick auf 2021 dann besser wissen.

Was besagen die Prognosen für das Wachstum 2021 quantitativ? Die OECD erwartet im Dezember für nächstes Jahr ein globales Wachstum von 4,2 Prozent, 2022 von 3,7 Prozent. Die Konjunkturexperten des IWF (Oktober) sind für 2021 mit 5,2 Prozent deutlich optimistischer als ihre Kollegen von der OECD. Für die Gruppe der fortgeschrittenen Volkswirtschaften rechnen die Ökonomen des Währungsfonds im kommenden Jahr mit einem Zuwachs um 3,9 Prozent (2020: minus 5,8%); in Schwellenländern soll es um 6,0 Prozent (2020: minus 3,3,%) nach oben gehen; die US-amerikanische Wirtschaft soll um 3,1 Prozent (2020 minus 4,3%), die japanische um 2,3 Prozent (2020: minus 5,3%) und die chinesische um 8,2 Prozent (2020 plus 1,9%) zulegen.  

Mit Bezug auf die Eurozone prognostiziert der IWF für 2021 ein Wachstum von 5,2 Prozent (2020 minus 8,3 Prozent) und für Deutschland eines von 4,2 Prozent (2020: minus 6,0 Prozent). Die neueste makroökonomische EZB-Schätzung („Eurosystem staff macroeconomic projections“ vom Dezember) sieht 2021 die Euro-Zone nur um 3,9 Prozent (2020: – 7,3%) im Plus; erst 2022 soll die Steigerungsrate dann bei 4,2 Prozent liegen. Offenbar rechnen die EZB-Ökonomen unter dem Eindruck der neuerlichen kräftigen Lockdowns im Euroraum damit, dass die Erholung der Wirtschaft vom Corona-Schock doch ein längerfristiger Prozess ist und sich der Aufholprozesse weit ins Jahr 2022 hineinverlagern wird. Der neueste EZB-Bericht referiert zudem noch sechs weitere Projektionen anderer Institute für den Euroraum. Die angegebenen Wachstumsraten liegen innerhalb folgender Intervalle: für 2020 zwischen minus 7,3 und minus 8,3 Prozent; für 2021 zwischen 3,6 und 5,3 Prozent; und für 2022 zwischen 2,6 und 4,2 Prozent. Anders als die EZB gehen die anderen sechs Expertengruppen von einer früheren Erholung bzw. einem stärkeren Wachstum 2021 als 2022 aus – aber diese Einschätzungen wurden größtenteils vor den neuerlichen Stilllegungen veröffentlicht. Dabei werden alle Institute nicht müde zu betonen, dass ihre Prognosen sehr unsicher sind, weshalb weiterhin alternative Szenarien diskutiert werden. Der IWF-Finanzstabilitätsbericht bietet einen Blick in den Maschinenraum der Prognose, indem er die zugrunde liegende Verteilungskurve der globalen Wachstums-Erwartungen präsentiert. Demnach ist eine Enttäuschung durch Abweichung der Wachstumsraten nach unten deutlich wahrscheinlicher ist als eine positive Überraschung nach oben. Die Wahrscheinlichkeit, dass das globale Wachstum auch 2021 unter null fällt, schätzte der IWF im Oktober auf 5 Prozent – das sei im historischen Vergleich ein sehr hoher Wert.

Inflationserwartungen

Die Inflationsdynamik war im Kontext des Corona-Einbruchs in den reichen Volkswirtschaften deutlich schwächer als zu Beginn des Jahres erwartet. Der IWF bezifferte in seinem Economic Outlook vom Oktober 2020 die Teuerung in fortgeschrittenen Volkswirtschaften für 2020 auf 0,8 Prozent. Für das kommende Jahr rechnen die Währungsfonds-Ökonomen mit einem Anstieg der Inflation. Die Teuerung soll in der genannten Ländergruppe 2021 bei 1,6 Prozent liegen. Relativ hoch ist das Inflationsniveau in der Gruppe der Schwellenländer: den Preisauftrieb dort schätzt der IWF für 2020 auf 5 Prozent, 2021 rechnet der Fonds mit einer etwas geringeren Dynamik in Höhe von 4,7 Prozent.

In den einzelnen Volkswirtschaften sind die inflationären Tendenzen unterschiedlich. In den USA sind nach IWF-Berechnungen die Verbraucherpreise 2021 um 1,4 Prozent gestiegen, für 2021 werden 2,8 Prozent erwartet. Der bisher 2020 erfolgte und der zukünftig erwartete US-Preisauftrieb liegt damit merklich über dem Durchschnitt der führenden Ländergruppe. Deutlich unter dem Durchschnitt der entwickelten Volkswirtschaften liegt die Teuerung in Japan; sie soll laut IWF 2020 bei minus 0,1 Prozent, 2021 dann bei 0,3 Prozent liegen.

Für den Euroraum erwartet der IWF für 2021 einen Anstieg der Verbraucherpreise von 0,9 Prozent (nach 0,4 Prozent im Jahr 2020), während die OECD für kommendes Jahr 0,7 Prozent (2020: 0,3%) errechnet. Die EZB hat in Anbetracht der neuerlichen Lockdowns zuletzt (Staff-Projektion vom Dezember) ihre Inflationserwartungen für die Eurozone gegenüber ihrer September-Prognose für 2020 und 2022 nach unten korrigiert. Sie gibt nun folgende Inflationsschätzungen (harmonisierte Raten / HICP) an: 0,2 Prozent für 2020; 1,0 Prozent für 2021; 1,1 Prozent für 2022; und 1,4 Prozent für 2023.

Ökonomisch entscheidend sind die Inflationserwartungen der Marktteilnehmer. Die derzeitigen Schätzungen der EZB liegen zumindest bis 2023 deutlich unter den (nicht ganz) 2 Prozent, die der Geldpolitik als Zielorientierung dienen. Ebenfalls klar unter diesem Ziel liegen auch die Raten in alternativen Szenarien, die die EZB durchrechnet. Mit anderen Worten: Angesichts der wahrscheinlichsten Inflationsschätzungen der EZB spricht gegenwärtig wenig dafür, dass die Zentralbank in den kommenden Jahren von der expansiven Grundausrichtung ihrer Geldpolitik abrücken wird.

Die EZB gibt auch für die Teuerung in der Eurozone die Berechnungen sechs weiterer Institute an. Die Intervalle liegen: für 2020 zwischen 0,2 und 0,4 Prozent; für 2021 zwischen 0,7 und 1,1 Prozent; für 2022 zwischen 1,1 und 1,3 Prozent. Also auch hier liegen die Werte deutlich unter der 2-Prozent-Schwelle.

Zinserwartungen und Geldpolitik

Im Zuge der Corona-Krise wurden weltweit gerade in Ländern mit höheren positiven Leitzinsen diese deutlich gesenkt – auch in den meisten Schwellenländern. Die Leitzinsen in den wichtigsten Währungsräumen liegen nun bei null oder sogar darunter. Das untere Zins-Band, das die US-Notenbank Fed festlegt, beträgt derzeit 0 Prozent (oberes: 0,25%); der Hauptrefinanzierungssatz im Euroraum liegt bei 0 Prozent; und der japanische Tagesgeldzinssatz befindet sich mit -0,1 Prozent sogar unter der Nulllinie. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft geht in seinem Herbstgutachten für den wahrscheinlichsten Fall davon aus, dass sich an diesen tiefen Leitzinsen in den beiden nächsten Jahren nichts ändern wird. 

Die Zentralbanken haben diese Null- oder Negativzins-Erwartungen mit ihrem Handeln und ihrer Kommunikation im Verlauf des Jahres 2020 weiter stabilisiert, aber auch entsprechend gehandelt.

Anfang Dezember etwa erweiterte die EZB nochmals das Pandemie-Notfallprogramm PEPP um 500 Milliarden Euro auf nun 1,85 Billionen Euro und verlängerte den Zeitplan für in diesem Rahmen zu tätigende Nettoankäufe bis mindestens Ende März 2022. Auch kommunikativ wurden Erwartungen feinjustiert: Die Fed etwa gab im Sommer bekannt, dass sie ein zeitweiliges Überschießen der Teuerung über das 2-Prozent-Ziel in Kauf nehmen würde. Und die EZB bekundete im Dezember abermals, die Leitzinsen auf dem gegenwärtigen oder einem tieferen Niveau zu belassen, bis eine Annäherung auf knapp unter 2 Prozent hinreichend weit fortgeschritten ist – was auch immer mit „knapp“ und „hinreichend“ gemeint sein soll.   

Finanzmärkte

Konjunktur- und Finanzstabilitätsberichte stimmen darin überein, dass der wesentliche Faktor für die Erholung der Finanzmärkte die schnellen und massiven fiskal- und geldpolitischen Reaktionen auf den Covid-19-Einbruch seit März gewesen ist. Die Bundesbank etwa kommt in ihrem jüngsten Stabilitätsbericht zu dem Ergebnis, dass das Finanzsystem insbesondere durch den massiv erhöhten Liquiditätsbedarf institutioneller Anleger vor einer ernsten Krise stand. Der Bericht lässt keinen Zweifel daran, dass dies hauptsächlich durch die „akkommodierende“ Geldpolitik der Notenbanken verhindert werden konnte. In der Folge gingen Furcht und Unsicherheit an den Finanzmärkten zurück, Aktien und Anleihen erholten sich nach und nach von den Kursverlusten vom Frühjahr.

Unsicherheit und Volatilität

Im Februar und März erhöhten sich die Unsicherheitsindikatoren an den Finanzmärkten abrupt: Indizes für die erwartete Volatilität an den Aktienmärkten etwa schossen nach oben auf um die 90er Punkte, das sind Niveaus wie in der Finanzkrise. Aber bereits Ende Mai waren die Angst-Indizes wieder auf unter 30 Punkte gefallen. Seither bewegen sie sich größtenteils im 20er-Bereich; das Unsicherheits-Niveau befindet sich zwar noch über dem der unmittelbaren Vor-Corona-Zeit, indiziert aber dennoch eine deutliche Beruhigung an den Finanzmärkten.

In Anbetracht dessen konstatierten IWF wie auch Bundesbank in ihren jüngsten Finanzstabilitätsberichten eine auffällige Divergenz von deutlich reduzierter (erwarteter wie auch realisierter) Volatilität an den Finanzmärkten auf der einen Seite und einer weiterhin sehr hohen Unsicherheit in der Realwirtschaft auf der anderen Seite. Denn nach IWF-Angaben ist etwa die Unsicherheit im Hinblick auf die Gewinnaussichten der Unternehmen im historischen Maßstab seit März sehr hoch geblieben ist. Auch wenn die fiskal- und geldpolitischen Maßnahmen im Kampf gegen den Corona-Schock sowohl Realwirtschaft wie auch Finanzmärkte stützen sollen, scheint also der Beruhigungseffekt bislang deutlich asymmetrisch verteilt zu sein. Ein wesentlicher Grund besteht sicher darin, dass Covid-19 ein Schock ist, der über die Verminderung der Wirtschaftsaktivität primär und unmittelbar die Realwirtschaft (bzw. Unternehmen) trifft. Die Realwirtschaft wird vor allem durch die Fiskalpolitik gestützt. Aber schwer zu antizipierende Stilllegungen generieren nun einmal trotz aller staatlicher Hilfen in vielen Branchen keine wirtschaftliche Aktivität, sondern eher den Horror vor dem verzögerten und daher umso nervenaufreibenderen Untergang. Die Geldpolitik wirkt über die Finanzmärkte. Für diese übernehmen die fast schon sprichwörtlichen Bazooka-, Dicke-Berta- oder Schwerer-Gustav-Arsenale der Notenbanken die Security, und das scheint zu wirken. Beides dürfte zur Asymmetrie der Unsicherheitswahrnehmung beitragen.

Aktienmärkte

Seit Sommer 2020 wird wieder vermehrt die Frage gestellt, ob Aktien in der Mehrheit bereits überbewertet sind, ob also die Preise der Wertpapiere über einem unterstellten „fairen Wert“ liegen. Die Stabilitätsberichte kommen zu teils etwas unterschiedlichen Einschätzungen.

Der IWF präsentiert Modellschätzungen, denen zufolge in etlichen Weltregionen die Aktienmärkte – Stand September 2020 – deutlich überbewertet sind. Dazu zählen insbesondere die USA; aber partiell auch in der Euro-Zone oder in Japan sieht der IWF (Stand: September) die Aktienpreise über dem „fairen Wert“.

Die Fed äußert sich in ihrem Stabilitäts-Report zu dieser Frage deutlich zurückhaltender, zumal die Bestimmung des fairen Wertes eine Kunst oder Wissenschaft für sich ist. Die Fed verortet den Risikoappetit der Aktien-Investoren in den USA trotz stark gestiegener Kurs-Gewinn-Verhältnisse derzeit noch innerhalb der historischen Norm.

Die Bundesbank schätzte im Herbst die Bewertungen an den Finanzmärkten zwar als ziemlich hoch ein. So seien an den Aktienmärkten hohe KGV-Verhältnisse nicht nur Folge gestiegener Kurse, sondern auch gefallener Gewinne. Allerdings spricht auch die Bundesbank nicht von einer generellen Überbewertung an den Aktienmärkten. 

Auch die EZB ist in ihrem jüngsten Stabilitätsbericht von der im Sommer bei Analysten aufgekommenen These einer generellen Abkoppelung der Aktien-Kurse von den Fundamentaldaten wenig überzeugt. Denn verschiedene Kenngrößen würden ein differenziertes Bild abgeben, insbesondere in Abhängigkeit von sektoraler und regionaler Zuordnung.

KGVs, die den Kurs ins Verhältnis zur Gewinnerwartung (Zukunft) setzen, seien im Euroraum zwar auf einem historischen Höchstwert; Grund seien gedämpfte Gewinnerwartungen. Aber zyklisch adaptierte KGVs, die den Preis relativ zu realisierten Gewinnen (Vergangenheit) abbilden, seien weltweit unter ihrem langfristigen Median-Wert geblieben – mit Ausnahmen in den USA, wo es in der Tat Zeichen für eine sehr sportliche Bewertung gebe.

Die EZB sieht denn auch in der Eurozone die Aktienmarktperformance im Einklang mit Ausblicken und Stimmungsindikatoren. Das Risiko einer abrupten Kurskorrektur bleibe zwar erhöht, sei aber im Abnehmen begriffen. So seien etwa die Kosten der Absicherungen qua Option gegen Korrekturen am Aktienmarkt in den letzten Monaten gefallen, auch wenn sie immer noch über Vor-Corona-Niveau liegen würden.

Die EZB verweist ferner auf unterschiedliche Entwicklungen an den Aktienmärkten. Der US-Aktien-Markt habe einen stärkeren Schub durch den sinkenden risikofreien Zins erhalten. In Europa habe die Kurserholung partiell einen Dämpfer bekommen, weil sich die langfristigen Gewinnaussichten im Kontext möglicher neuer Corona-Lockdowns stärker eintrübten. Auch seien, so die Ökonomen der Europäischen Zentralbank, sektorale Disparitäten zu berücksichtigen, da sich bestimmte Sektoren – wie Technologie – stärker erholten als andere – wie Öl oder Gas. Zu beachten sei in diesem Zusammenhang, dass die gutlaufenden Sektoren in den gängigen Marktkapitalisierungs-Indizes Marktanteile gewinnen und deshalb auch deren Kurssteigerungen überproportional beeinflussen. Die fünf größten Aktien im S&P 500 machten Ende November 23 Prozent aus, was in historischer Perspektive ein hoher Wert sei. 

Rentenmärkte

Die Bewertungsfrage wird auch mit Blick auf die Rentenmärkte gestellt. Im Zuge der Erholung seit dem Corona-Einbruch sind die Rentenkurse wieder kräftig gestiegen bzw. die Renditen entsprechend gefallen. Die EZB schätzt in ihrem jüngsten Finanzstabilitätsbericht, dass der Anteil von Festverzinslichen, die nominal unter 2 Prozent rentieren, weltweit auf 90 Prozent angestiegen ist. Darin reflektiere sich, so die EZB-Ökonomen, der Rückgang des risikofreien Zinssatzes wie auch die Kompression der Spreads, also der Renditedifferenzen bei Anleihen. Die Frage ist dann, wie das mit den entsprechenden Wirtschaftsdaten zusammenpasst. Und hier gibt es Zweifel. Die Bundesbank etwa erachtet die Risikoaufschläge für deutsche Unternehmensanleihen gemessen an der Verschuldung und den Fundamentaldaten derzeit als sehr gering. Der IWF zeigt in einem Modell, dass auch im Rentenbereich politische Interventionen die Verschlechterung ökonomischer Fundamentaldaten partiell kompensieren konnten, sowohl in fortgeschrittenen Volkswirtschaften wie in Schwellenländern. In Schwellenländern wirkt sich zudem die Lockerungs-Politik der Fed direkt aus: Sie sei dort für rund ein Viertel bis zur Hälfte des Rückgangs der langfristigen Zinsen verantwortlich. Die EZB konstatiert darüber hinaus einen Rückgang der Qualität der Unternehmenskredite in Europa: negative Rating-Ausblicke hätten trotz Rückgang der corona-schockbedingten Herabstufungen ein historisch hohes Niveau erreicht und der Anteil des High-Yield-Segments sei auf ein Rekordhoch gestiegen. Ein vergleichsweise hoher Anteil der Bonds, die 2020 in Europa emittiert wurden, habe Ratings im unteren Investment Grade-Bereich. Bei einem Zurückfahren der politischen Unterstützung oder bei Auftreten neuer ökonomischer Verwerfungen könnten Herabstufungen in den Non-Investment-Bereich die betreffenden Unternehmen (sogenannte „fallen angels“) in stärkere Probleme bringen.

Der IWF geht davon aus, dass die Bewertungen an den Anleihenmärkten noch längere Zeit stabil bleiben oder gar weiter ansteigen werden. Dennoch sei das Risiko von Korrekturen gegeben oder könnte zunehmen. Das könne namentlich dann der Fall sei, wenn Investoren ihre Einschätzung über die Dauer der politischen Maßnahmen ändern oder wenn sich die Wirtschaftserholung verzögern sollte.  

Risiken 2021

Die meisten Experten gehen zwar derzeit davon aus, dass die Pandemie im Jahr 2021 zunehmend kontrolliert werden kann und damit langsam ihren Schrecken für Menschen und Wirtschaft verlieren wird. Das schließt jedoch Rückschläge, enttäuschte Erwartungen oder weitere Stilllegungen ebenso wenig aus wie positive Überraschungen. Die Pandemie ist auch Ende 2020 der größte Unsicherheitsfaktor, mit dem sich die Wirtschafts- und Finanz-Prognostiker herumschlagen. Den tatsächlichen Verlauf und auch die Gesamtschadensbilanz gibt am Ende zwar die Wirklichkeit bekannt, nicht das Ensemble von Mutmaßungen, Modellen und Prognosen, mit dem wir uns vorerst begnügen müssen. Gleichwohl wird die Wirklichkeit gerade an den Finanzmärkten wesentlich von den Erwartungen beeinflusst. Solange die Marktteilnehmer mit der jederzeitigen Notrufbereitschaft der Geld- und Fiskalpolitik rechnen, dürfte die gegenwärtige Konstellation, so etwa auch sehr hohe oder weiter steigenden Bewertungen, einigermaßen stabil bleiben. Das ist jedenfalls der Gesamteindruck, den die jüngsten Konjunktur- und Finanzstabilitätsanalysen vermitteln. Problematisch wird es wohl erst, wenn dieser Erwartungskonsens bröckelt. Und das dürfte eher gegen Ende der Pandemie sein, wenn Notfallmaßnahmen zunehmend umstritten sind und vermehrt Ausstiegsszenarien diskutiert werden. Aber auch der Zeitpunkt des Endes der Pandemie und des Eintritts in die wirtschaftliche „Normalphase“ dürfte strittig sein. Die zitierten Analysen warnen jedenfalls jetzt schon davor, die fiskal- und geldpolitischen Stützungsmaßnahmen zu früh zurückzufahren. Allerdings muss dies ja irgendwann einmal geschehen.

Welche Gefahren für die Finanzstabilität, die bislang noch nicht angesprochen wurden, sehen die zitierten Studien sonst noch?

Auf ein Risiko im Zusammenhang mit dem „Anlageuniversums“, das mit der zunehmenden Zentralbankpräsenz in verschiedenen Märkten zusammenhängt, weisen die Ökonomen des Währungsfonds hin: Die Erholung der Aktien- und der Anleihenmärkte führte (Stand Ende September) zu einer starken Erhöhung der Korrelationen riskanter Assets; nach Angaben des IWF liegen diese sogar über dem Niveau während der Finanzkrise 2008 und 2009. Eine stärkere Korrelation reduziert aber die Möglichkeiten der Portfolio-Diversifikation und kann die Ausbreitungsgefahren von Shocks und Verlusten im Falle von Preiskorrekturen an den Finanzmärkten erhöhen.

Die Finanzstabilitätsberichte richten ein besonderes Augenmerk regelmäßig auf Risiken im Rahmen der institutionellen Geldanlage und des Fondsmanagements. So enthält beispielsweise der Stabilitätsbericht der Bundesbank eine umfassendere Analyse des Fondsverhaltens während und nach dem Corona-Crash. Auch wenn sich Fonds zwischenzeitlich wieder erholt haben, zählen die im Frühjahr sich zeigenden Probleme weiterhin zu den Risiken, die im Falle eines stark erhöhten Finanzmarkt-Stresses Krisenpotential haben könnten. Gemeint sind insbesondere Liquiditätsprobleme der Fonds und damit verbundene Verkaufszwänge als Folge des massiven Anstiegs von Rückgaben von Fonds-Anteilen, von Nachschussforderungen und Rebalancing-Erfordernissen.

Ein weiteres Risiko, das die zitierten Berichte verhandeln, sind die krisenbedingt massiv erhöhten Schulden von Staaten weltweit. Das könnte vor allem Schwellenländer in die Enge treiben, weil die dortigen geld- und fiskalpolitischen Instanzen über weniger Ressourcen und Reserven verfügen. Gerade bei weiteren negativen Schocks oder ausbleibender Erholung könnte sich das als fatal erweisen. Ein mögliches Negativ-Szenario wäre etwa, dass Staaten aufgrund stark reduzierter Einnahmen ihre fiskalpolitische Unterstützung zu früh abbrechen. Das könnte eine volle Erholung verhindern bei zugleich stark gestiegenen Staatsschulden.

Die soeben angesprochenen Risiken sind nur einige von vielen, die in den aktuellsten Konjunkturausblicken und Finanzstabilitätsanalysen mehr oder weniger ausführlich diskutiert werden. Naturgemäß müssen gerade Finanzstabilitätsberichte die möglichen Gefahren analysieren. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass diese dann auch eintreten.

Für das ablaufende Jahr kann man resümieren: die Finanzmärkte haben sich 2020 überraschend schnell vom Covid-19-Stress erholt, für die „Realwirtschaft“ gilt das aber in vielen Segmenten noch nicht. Bleibt für 2021 nur zu hoffen, dass das erstrebte Versiegen der Pandemie und die ersehnte Genesung der Wirtschaft zu keinem „Schock“ für die Finanzmärkte führen wird.