Anlagestrategie – Vorbild Herodot?

Eine neue Studie erhärtet die These, dass die Kenntnis der Kursgeschichte das strategische Durchhaltevermögen von Anlegern zugunsten der Langfrist-Performance erhöht.

Herodot, pater historiae. Foto: Yair Haklai, CC-BY-SA-4.0

Der Fundamentalsatz der Anlegerprospekte lautet: „die vergangene Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator der künftigen Wertentwicklung“. Damit wird jedoch nicht behauptet, dass die vergangene Wertentwicklung als Indikator überhaupt nicht taugt oder dass man die Historie der Wert- oder Kursentwicklung vergessen kann. Mikhail Samonov (Two Centuries Investments) und Nonna Sorokina (Pennsylvania State University) sprechen sich in einer neuen Studie im Namen der Performance sogar für mehr Kenntnis der Kursgeschichte aus.

Ein entscheidendes Problem der Geldanlage ist die Frage der Disziplin. Die wird besonders durch die berühmten Animal Spirits, die Affekte, auf die Probe gestellt. Odysseus ist der berühmteste aller Trickser, die einen Kniff fanden, ihre Animal Spirits durch Bändigung an den Strudeln des Untergangs vorbeizusteuern. Die Autoren der Studie bieten eine andere, weniger dramatische, da vorbeugende Lösung im Falle von Börseneinbrüchen an: Es sollen die Animal Spirits erst gar nicht in Schwung geraten, so dass sie nicht an den berühmten Mast gebunden werden müssen. Das Mittel, das die Studienautoren vorschlagen, ist deshalb auch kein physisches – es ist kognitiv-aufklärerisch und wirkt auf die Erwartungsbildung: Die Kenntnis der Kursgeschichte. Statt Odysseus sollten wir uns also lieber Herodot von Halikarnassos als Vorbild nehmen, der als Vater der Geschichtsschreibung gilt.

Das Ausgangsproblem der Studie ist, dass Anleger eine Strategie wählen, die sie langfristig durchhalten wollen, auch im Falle von Kurseinbrüchen. Geben die Börsen allerdings massiv nach, fürchten viele Anleger einen Totalverlust. Das erhöht die Neigung, der entstehenden Angst nachzugeben, aus der Strategie auszusteigen und zu verkaufen. Begleitet wird dies von einem Wandel der Risikowahrnehmung: Die Geldanlage scheint plötzlich sehr viel riskanter zu sein als zuvor gedacht. Von den verschiedenen Faktoren, die sich in der Risikoeinschätzung niederschlagen, schauen sich die beiden Studienautoren daher einen näher an: die Länge der Kursgeschichte im Bewusstsein der Anleger. Die Vermutung lautet: Ein kürzerer Erinnerungshorizont führt bei Börseneinbrüchen eher zu Enttäuschungen, Panik und einer Flucht aus der Strategie durch Verkäufe. Ein lange zurückreichender Erinnerungshorizont bei Anlegern beugt einer Unterschätzung des Risikos im Zuge der Erwartungsbildung vor. Die Frage ist dann, wie sich dies auf die Performance auswirkt.

Die empirische Ausgangsbasis der Studie ist die historische Performance von verschiedenen Strategien der Asset-Allokation für den Zeitraum zwischen 1926 und 2020. Insgesamt wurden 7 Ansätze berücksichtigt: 1) 60/40-USA; 2) 60/40-Welt; 3) 60/40-diversifiziert; 4) Risikoparität; 5) Endowment; 6) Faktor; 7) dynamisch (siehe Studie, Link am Ende). Das entscheidende Risikomaß, für das sich die Studienautoren interessieren, ist der maximale Wertverlust in einer Periode, der „Maximum Drawdown“. Der betrug je nach Strategie bis zu 62 Prozent im genannten Zeitraum.

Simulation

Die beiden Finanzmarktforscher untersuchten nun mittels Modell-Simulationen, wie sich die Performance entwickelt, wenn Anleger bei einem Kurseinbruch ihre Strategie aufgeben und verkaufen. Samonov und Sorokina unterscheiden neben den eben genannten sieben Strategien noch vier verschiedene Kurs-Erinnerungshorizonte, drei Risikotypen und vier Investmenthorizonte.

Die vier Erinnerungshorizonte betragen 10, 25, 50 Jahre und das Maximum an Jahren (Start der Zeitreihe 1926).

Die drei Risikotypen sind definiert über den Verlust, bei dem Anleger aus der Strategie durch Verkauf aussteigen: Risikotolerante verkaufen bei 100 Prozent des Maximum Drawdown innerhalb ihres jeweiligen Erinnerungshorizonts; Risikoneutrale verkaufen bei 75 Prozent und Risikoaverse bei 50 Prozent.

Schließlich gibt es vier Investmenthorizonte: 5,10,20,40 Jahre. Das hierfür betrachtete Zeitfenster reichte von 1970 bis Ende 2020.

Ein Beispiel: Angenommen, ein Investor wählt die 60/40-Strategie und hat 1970 einen Investmenthorizont von 40 Jahren. Bei maximalem Erinnerungshorizont bis 1926 liegt der maximale Drawdown im Jahr 1970 bei 62 Prozent. Bei einem 10-Jahre-Erinnerungshorizont, wie er für die Finanzberatung typisch ist, beträgt er nur 18,5 Prozent. Ein risikotoleranter Investor wird bei einem 10jährigen Erinnerungshorizont dann im Fall eines Einbruches bei einem 18,5-Prozent-Verlust verkaufen, bei maximalem Erinnerungshorizont hingegen erst bei einem 62-Prozent-Einbruch.

Ergebnisse

Jeder der Faktoren Strategie, Risikopräferenz, Investmenthorizont, Erinnerungshorizont wirkt sich auf die Performance aus. Wegen der vielen kombinatorischen Möglichkeiten beschränken wir uns auf wenige zentrale Ergebnisse (ausführlicher siehe Studie).

Risikotolerante Investoren mit dem längsten Erinnerungshorizont schneiden in der Simulation am besten ab – außer bei kurzem Investmenthorizont. Aber selbst sehr vorsichtige, also risikoaverse Anleger mit langem Erinnerungshorizont schlagen sich die meiste Zeit verhältnismäßig gut. Ein langer Erinnerungshorizont zahlt sich besonders dann aus, wenn der Investmenthorizont lang ist und die Portfolios Krisenphasen durchlaufen müssen.

Am schlechtesten fahren im Hinblick auf die Performance langfristige Investoren, die zugleich risikoavers sind und auf Basis eines kurzen, also 10jährigen Erinnerungshorizonts ihre Risiko-Erwartungen bilden.

Eine Simulation des Wiedereinstiegs nach dem Ausstieg zeigt, dass die Performance in der Regel deutlich verbessert werden konnte, aber geringer ausfiel, als wenn die Strategie komplett durchgehalten worden wäre.

Schluss

Die Simulationsergebnisse der Studie sprechen dafür, dass Informiertheit der Anleger in Gestalt eines langen Erinnerungshorizonts einen gegebenenfalls deutlichen Performance-Unterschied ausmacht. Eine weiter zurückreichende Kenntnis der Kursgeschichte hilft, adäquatere Risiko-Erwartungen zu bilden. Das mindert im Crash-Fall die Enttäuschung der Anleger, ihre Angst-Neigung und ihren Drang, aus einer Strategie ganz auszusteigen – mit positiver Wirkung auf die Performance. Das Ergebnis der Studie könnte man daher auch so zusammenfassen: „Die Länge der Kurshistorie im Bewusstsein der Anleger ist ein Indikator für die Höhe der positiven Wertentwicklung ihres Portfolios.“

Nun ist diese Aussage nicht ganz korrekt. Denn es geht ja „nur“ bis 1926. Andere Zeitreihen gehen vielleicht noch weiter zurück, aber da dürften sich dann bald Probleme mit der Verlässlichkeit / Datendichte ergeben. Offenbar beschränkt sich die Aussage auf einen markanten Zeitabschnitt „moderner“ Finanzmärkte. (Das würde dann bei Vertiefung auf die Frage nach historischen Epochen der Marktevolution führen und ob es epochenübergreifende, dem historischen Wandel weitgehend entzogene „Verhaltensmuster“ gibt, die auf Märkten immer wiederkehren. Siehe weiter unten.)  

Einwenden kann man zudem: Wäre z.B. 2007 der tiefste Einbruch seit 1926 erfolgt und wäre z.B. statt der Weltwirtschaftskrise 1929 ff eine milde Konjunktureintrübung eingetreten, würde die Studie zu anderen Ergebnissen kommen. Unsere Schlussaussage würde so für die Anleger nicht zutreffen. Die Aussage ist also von einer Ereignissequenz abhängig, die im Prinzip historisch kontingent ist, die auch anders hätte ablaufen können.

Schließlich wird die uns fast selbstverständliche Annahme unterstellt, dass sich die Risiko- und Crash-Geschichte auch auf modernen Finanzmärkten „irgendwie“ permanent  wiederholt, auch wenn wir die Ankunfts-Termine der Abstürze nicht vorab kennen. Es scheint dagegen kein noch so prudenzielles Kraut des Lernens und der Regulierung gewachsen zu sein. Man kann das abstrakt vielleicht damit begründen, dass Finanzmärkte gegen eine unerwartet eintretende „toxische“ Gleichausrichtung des Handelns Vieler (oder relevanter Institutionen) nicht grundsätzlich immun gemacht werden können. Denn die Möglichkeit einer destruktiven Synchronisation ist in der (wie auch immer regulierten) Handlungsfreiheit der Marktakteure enthalten, die wiederum wesentliche Bedingung von Finanzmärkten ist. Aber genauso scheint sich Geschichte darin zu wiederholen, dass nach einem Crash immer wieder eine Erholung erfolgt, selbst wenn diese Jahre dauern kann. Ist es aber völlig ausgeschlossen, dass sich die Finanzgeschichte einmal für lange, lange Zeit zwar an das erste, aber nicht an das zweite „Gesetz“ hält?

Link zur Studie: “A Century of Asset Allocation Crash Risk”