Nachhaltige Geldanlage in der Orientierungskrise?

Non Violence Sculpture vor dem UN-Hauptquartier: Ein Knoten in der Nachhaltigkeit von Waffen, für den es beim ESG-Rating bald Abzüge gibt?

In den vergangenen paar Jahre spielten die Kapitalmärkte und ihr weltgesellschaftliches Umfeld nachhaltigen Geldanlagen deutlich weniger in die Hände als die Jahre davor.

Ein wichtiger Grund war eine verbreitete Schwäche der Performance vieler ESG-Wertpapiere. Hinzu kamen punktuelle Neueinschätzungen oder Umwertungen von Nachhaltigkeit, die viele ESG-Anleger irritierten. Striktere Regulatorik schränkte den allzu lockeren Umgang mit dem ESG-Label ein, was marketingseitig partiell die Liebe zur Nachhaltigkeit erkalten ließ.

Auch politisch-ideologisch geriet Nachhaltigkeit aus den unterschiedlichsten Gründen in die Defensive. Gegner des etablierten Kanons der Nachhaltigkeit, einzelner „Themen“ oder von normativen Neuerungen machten in den USA erfolgreich mobil. In Deutschland führte die forcierte politisch-rechtliche Umsetzung insbesondere der kostenaufwendigen „Energiewende“ zu verstärktem Widerspruch, was die Lust auf Nachhaltigkeit schwächte.

Wir gehen im Folgenden auf zwei Beispiele für Wandel- und Gegentendenzen bei Nachhaltigkeit ein.

In letzter Zeit hat sich das lange verschlossene Tor der Nachhaltigkeit für Waffenhersteller geöffnet. Die Geopolitik und ihre Fortsetzung mit anderen Mittel macht es möglich, und da überdenken auch die Verbände in Deutschland ihre Türpolitik.

Die USA sind führend bei der Findung, Produktion und Verbreitung neuer sozialer Normen, Verhaltensregeln und Gesinnungsmodelle. Ein jüngerer Innovationsschub dieser Art, der sich in Unternehmen in den USA im Sinne der G- oder S-Nachhaltigkeit zuerst verbreitete, evozierte dort zuletzt erfolgreiche Gegenaktionen.   

Rüstung und Nachhaltigkeit

Derzeit fragen sich Geldanleger vermehrt: „Ist Rüstung doch irgendwie nachhaltig, haben wir uns bisher von Ausschlusskriterien narren lassen?“ Die Antwort fällt bekanntlich unterschiedlich aus und ist anfällig für den wankelmütigen Geist der Zeit.

2021 vereinbarten Verbände der Finanzwirtschaft in einem ESG-Zielmarktkonzept, dass Unternehmen mit mehr als 10% Rüstungsumsatz aus nachhaltigen Fonds auszuschließen seien. Diese guten Vorsätze haben den russischen Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 und die militärische Unterstützung des gebeutelten Landes durch den Westen nicht überstanden.

In einem im September veröffentlichten Interview erklärte Magdalena Kuper, Leiterin Nachhaltigkeit beim deutschen Fondsverband BVI, weshalb: „Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gibt es eine breite gesellschaftliche Debatte über einen Ausbau der Rüstungsindustrie zur Verteidigung unserer demokratischen Grundordnung. Mit dem Ausschluss der Rüstungsfinanzierung im ESG-Zielmarktkonzept haben wir diese Debatte bislang unterbunden und wollen sie nun auch den Fondsmanagern und den Anlegern ermöglichen.“ Hierzu ist anzumerken, dass das Zielmarktkonzept die gesellschaftliche Debatte von Investoren nicht unterbindet. Das Wort „Debatte“ an der zweiten Stelle im zitierten Satz kann sich sinnvoll nur auf die „Debatte“ im Rahmen von Investitionsentscheidungen bei ESG-Fonds beziehen. Es ist Investoren jederzeit möglich, an der angeführten „breiten gesellschaftlichen Debatte“ teilzunehmen und in Fonds ohne Nachhaltigkeits-Label, die Rüstungsaktien inkludieren, zu investieren. In Zukunft soll es aber möglich sein, auch unter dem Label „Nachhaltigkeit“ oder „ESG“ in Rüstung zu investieren.

Dies forderten, so Kuper, sowieso Vorgaben der EU, die man umsetzen müsse: „… Die EU-Kommission stellt insbesondere klar, dass der EU-Rahmen zur Nachhaltigkeit keine Investitionen in Rüstungsfirmen unterbinden soll. Diesen Klarstellungen müssen wir im Mindeststandard des ESG-Zielmarktkonzepts Rechnung tragen.“

In den „Klarstellungen“ von EU-Seite vom Mai 2024 heißt es unter „5.1. Erleichterung des Zugangs zu Finanzmitteln“ für das „Ökosystem“ Verteidigung: „Da es dringend notwendig ist, Investitionen in dieses Ökosystem zu fördern, kommt es entscheidend darauf an, einen ausreichenden Zugang zu Finanzmitteln sicherzustellen … Die Bereitschaft der Finanzakteure, mit der Verteidigungsindustrie zusammenzuarbeiten, dürfte durch die Besonderheiten des Verteidigungsmarkts …. bzw. durch Mutmaßungen in Bezug auf die Faktoren Umwelt, Soziales und Governance (ESG) beeinträchtigt sein. … Die Kommissionsdienststellen werden – gegebenenfalls zusammen mit der ESMA – Orientierungshilfen für die Anwendung des EU-Rahmens für ein nachhaltiges Finanzwesen im Verteidigungsbereich bereitstellen. … Das von der EDA verwaltete Netz von Regierungssachverständigen für ESG ist ein Beispiel für eine Plattform, mit der gegenseitiges Verständnis und Vertrauen weiterentwickelt werden könnte. Insbesondere sollte dieses Forum die Schnittstelle zwischen den Verteidigungsministerien der Mitgliedstaaten und dem Finanzsektor stärken.“

Der EU-Apparat leistet demnach im top-down-Verfahren ganze „Verständnisarbeit“. Aber der Finanzmarkt hat als EU-Versteher seine Grenzen. Systematisch bedient er primär den Wunsch nach Rendite und nicht den der EU-Kommission oder anderer politischer Einrichtungen.

Je nach Situation können ökonomisches und politisches Motiv gleichgerichtet oder auch gegengerichtet wirken. Die Kurse etlicher Waffenhersteller waren nach der Invasion Russlands in die Ukraine bald im Höhenrausch, während die Erträge vieler nachhaltiger Anlagen zu wünschen übrigließen. Das weckte Begehrlichkeiten, für die nachhaltige Fonds Schranken darstellten. In dieser Phase wirkten beide Motive, das Ertragsmotiv und das politische Motiv, in die gleiche Richtung.

Vermutlich reicht das ökonomische Motiv alleine nicht aus, um in relativ kurzer Zeit eine Nachhaltigkeits-Umbewertung der Rüstung herbeizuführen. Dazu bedarf es koordinierter, ausreichend starker politischer Kräfte, die in eine Richtung wirken – wie das Zitat aus der „Klarstellung“ auch andeutet.

Damit sind wir wieder beim von Magdalena Kuper geteilten „Narrativ“, die Rüstungsindustrie trage zur Verteidigung der Demokratie bei – eines gewöhnlich hochgeschätzten Werts. Man kann diese Auffassung verschieden zu begründen versuchen, auch ohne Bezug auf den aktuellen Krieg in Osteuropa. Jedoch wäre vermutlich ohne die schnelle Verbreitung einer geeigneten, auch von EU-Stellen kommunizierten Deutung und Wahrnehmung dieses Krieges, die an ethische Vorstellungen appelliert und entsprechende Gefühle aktiviert, der sich abzeichnende Wandel der Nachhaltigkeitsbewertung der Rüstungsbranche nicht möglich.

SG-Nachhaltigkeit in US-Unternehmen

Als wichtiger Gradmesser für die Bedeutung der nachhaltigen Geldanlage in der Fondsindustrie gelten die Jahresbriefe von Blackrock-Chef Larry Fink. Vor einigen Jahren stand noch ESG im Zentrum seiner Botschaft. Im 2023er-Brief war das Wort ESG nicht mehr anzutreffen. Exegeten berichteten, es seien nur noch einzelne Nachhaltigkeitsthemen angesprochen worden. Der Jahresbrief zu Beginn 2024 habe diese Tendenz fortgesetzt. Offenbar hat Fink das Wort „ESG“ gemieden, weil es in den USA zwischenzeitlich für viele ein rotes Tuch ist. Anders gesagt: Fink ging im schon länger währenden „cultural war“ in den USA in Deckung.

Unter anderem vor Leuten wie Ron DeSantis, für den ESG die Prioritäten verkehrt: “Corporate power has increasingly been utilized to impose an ideological agenda on the American people through the perversion of financial investment priorities under the euphemistic banners of environmental, social, and corporate governance and diversity, inclusion, and equity”.

DeSantis ist nicht irgendwer, sondern Governor von Florida. Die bundesstaatlichen Vermögensverwaltungen sind angehalten, nicht mehr nach ESG-Kriterien zu investieren, sie haben sich ausschließlich nach der Rendite zu richten. Dieser neue homo oeconomicus der Marke Florida ist, wie das Zitat zeigt, nicht rein ökonomisch motiviert, sondern vielleicht mehr noch politisch-ideologisch – und das bedeutet werteorientiert, nur eben anderswerteorientiert. Konsenswerte werden dennoch ebenfalls angerufen. Denn DeSantis begründet die rein ökonomische Ausrichtung unter anderem mit Demokratie. In staatlichen Fonds müssten im Sinne der Demokratie die Werte so repräsentiert sein, wie sie sich in politischen Wahlergebnissen niedergeschlagen haben, beispielsweise in der Wahl von DeSantis. 

In Texas wurde den bundesstaatlichen Pensionskassen verboten, Blackrock und anderen ESG-geneigten Vermögensverwaltern Mandate zu erteilen, weil sie, so eine Begründung, Investments in „fossile Brennstoffe“ boykottieren würden.

ChatGPT zufolge haben seit 2021 gegenwärtig 19 US-Bundesstaaten 42 Anti-ESG-Gesetze dieser Art verabschiedet. 2024 habe sich das Momentum jedoch verlangsamt. Aber das war vor der Wahl Donald Trumps zum neuen US-Präsidenten. Es könnte also durchaus sein, dass die Anti-ESG-Bewegung ab 2025 wieder mehr Schwung erhält.

2024 hat sich zudem ein anderes Momentum kräftig verstärkt: Der Kampf gegen DEI (Diversity, Equity and Inclusion).

Auf der Anfahrt zum “8th Annual Vietnam Memorial Ride”, Start: New River Harley Davidson. Harley Davidson erklärte kürzlich in einem Statement, bei Einstellungen künftig nur noch nach Qualifikation zu bewerten und nicht nach DEI-Kriterien. Man werde zudem DEI-Schulungen beenden, aus dem Corporate Equality Index der Human Rights Campaign (HRC) aussteigen und nur noch Veranstaltungen der Motorradszene von Ersthelfern, aktiven Militärangehörigen und Veteranen unterstützen.

Seit Aufkommen der Black-Lives-Matter-Bewegung 2014 ist in den USA die Implementierung von DEI-Programmen in staatlichen und privatwirtschaftlichen Organisationen stärker vorangetrieben worden. Dabei handelt es sich um ein breites Spektrum von Maßnahmen, die nicht nur auf Veränderungen äußerlichen Verhaltens abzielen, sondern ebenso auf Korrekturen innerer Regungen, auch jener, die man vor sich selber geheim hält. Auf Letzteres zielen beispielsweise Schulungen zur Bekämpfung von unbewussten Vorurteilen (Unconscious Bias Training).

Was hier eine quasipsychoanalytische Gestalt annimmt, ist Teil einer moralpolitischen Bewegung einer wachsenden Zahl von Gruppen, die eine eigene Diskriminierung wahrnehmen und Erweckung, Wachheit, Anerkennung dafür fordern. Als übergeordnetes Schlagwort hat sich hierfür „Wokeness“ durchgesetzt. Darunter wird meist auch DEI subsumiert. Diese Einordnung wird jedoch nicht von allen Protagonisten geteilt, manche versuchen, DEI in einen durch die Situation in den USA weniger geprägten internationalen Programmrahmen zu stellen, der sich aus den UN-Nachhaltigkeitszielen ergibt – offenkundig um DEI aus der Schusslinie der Anti-Wokeness-Bewegung zu nehmen.

Um Diskriminierung geht es bereits bei der älteren affirmative Action (positive Diskriminierung). Dagegen formierte sich in den letzten Jahren zunehmend Widerstand. Im Sommer 2023 urteilte der Supreme Court, dass die Praxis von Eliteuniversitäten (in diesem Fall Harvard University und University of North Carolina), das Kriterium „Rasse“ beim Auswahlverfahren zur gewollten Bevorzugung von Minderheiten zu verwenden, (negativ) diskriminierend für andere Gruppen und damit verfassungswidrig sei. Universitäten mussten daraufhin ihre Aufnahmeprozeduren ändern.

Der oben erwähnte Governer DeSantis unterzeichnete 2022 den „Stop WOKE Act“ (Stop Wrongs to Our Kids and Employees Act), der aber nach jüngster Rechtsprechung in Teilen gegen die Verfassung verstößt. Um die Verbreitung von “woken” Ideen zu verhindern, wurde 2024 „Principles of Sociology“ als Pflicht- bzw. Kernfach aus dem Lehrplan der Colleges in Florida gestrichen und ersetzt durch “18th- and 19th-century U.S. history class that focuses on a close reading of the Declaration of Independence, the Constitution and the Federalist Papers.” Die historischen US-Wertedokumente sollen gegen normative Neubildungen in Stellung gebracht werden. Um es nochmals zu unterstreichen: Auch Kritiker von DEI oder affirmative Action berufen sich auf Werte – etwa auf individuelle Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit, die beiden Säulen des klassischen amerikanischen Traums.

Zugleich nahmen politische Maßnahmen gegen die Ausbreitung neuerer DEI-Programme zu. ChatGPT zufolge beschränken oder bannen derzeit 13 Bundesstaaten DEI-Regelungen, in über 30 wurden Gesetze verabschiedet oder Gesetzentwürfe eingebracht, um DEI zu regulieren.

Auch US-Unternehmen verspürten in Sachen DEI kräftigen Gegenwind von Kundenseite. Im Sommer 2024 traf es Harley Davidson, nachdem auf Initiative des neuen Chefs Jochen Zeitz DEI-Richtlinien eingeführt worden waren. Nach heftigen Gegenreaktionen von Kundengruppen wurden die Richtlinien kassiert.

Koordiniert hatte die Anti-DEI-Kampagne bei der Biker-Ikone wohl wesentlich ein konservativer „Aktivist“ namens Robby Starbuck über soziale Medien. Starbuck gelang schon zuvor, Landmaschinen-Produzent Deere & Co., Agrarutensilien-Händler Tractor Supply oder Jack Daniel’s-Hersteller Brown-Forman über Kundenreaktionen zur Rücknahme von DEI-Maßnahmen zu zwingen.

Dass die imagebildenden Kundenstämme dieser Branchen für DEI nicht ganz so sehr brennen und eher für Gegenkampagnen Leidenschaften entwickeln, überrascht Außenstehende vielleicht weniger, als dass Unternehmen dieser Branchen dennoch die umstrittenen DEI-Regelungen einführen. Man würde bei den High-Tech-Firmen aus dem Silicon Valley eher vermuten, dass mehr Beschäftigte und Kunden DEI-Regelungen unterstützen oder damit keine Probleme haben. Daher ist es umso bemerkenswerter, dass sich nun wohl auch Microsoft oder Zoom in Sachen DEI defensiver aufgestellt haben.

Nachhaltigkeit: Sophistische Versuchungen

Wie sind diese gesellschaftlichen Moral-Tendenzen mit starkem Werteanspruch und erheblicher Aktionsbereitschaft in einem Nachhaltigkeitsschema einzuordnen?

Würde man Nachhaltigkeit rein formell lediglich über eine ethisch-ideologische Verankerung definieren, könnten sowohl Verfechter wie auch Gegner von DEI und affirmative Action „Nachhaltigkeit“ für sich reklamieren. ESG-Taxonomien sind jedoch auch inhaltlich durch einen „Kanon“ definiert.

Trivialerweise sind daher ethisch motivierte Vertreter von expliziten Anti-ESG-Maßnahmen, wie wir am Beispiel Floridas andeuteten, anti-nachhaltig.

Protagonisten von DEI beanspruchen explizit, nachhaltige Ziele zu verfolgen. Allerdings wäre zunächst zu prüfen, welche Schnittmengen mit aktuellen SG-Kriterien besten, um beurteilen zu können, wieviel Anti-SG gegenwärtig an Anti-DEI dran ist.

ESG: Bald ein Beispiel für die Umwertung aller Werte und damit ein Fall für Dr. Nietzsche?

Wir zeigten am Beispiel Rüstung, dass sich ESG-Kriterien mitunter schnell wandeln, und auch von DEI scheinen innovative Impulse auf eine adaptive Nachhaltigkeits-Taxonomie auszugehen. Diese Flexibilität führt beim Schweifen in die zeitliche Ferne und die Welt der Möglichkeiten von Nachhaltigkeit zu einer sehr dynamischen Option. Es wäre denkbar, dass irgendwann in einer Art von Nachhaltigkeits-Revolution ethisch begründete Anti-ESG-Positionen auf nachhaltig gedreht und konventionelle ESG-Regeln auf antinachhaltig gedreht werden. Diese theoretische Spekulation erscheint momentan als äußerst unwahrscheinlich, dagegen könnte man aber einwenden: In einer Welt voll Sophisten ist praktisch mit allem zu rechnen.