Kryptorätsel für Anleger: Wer kennt die Lösung?

Die Welt der Kryptoassets ist voller Rätsel. Alle stehen vor dem Rätsel: Wer ist Satoshi Nakamoto? Miner müssen ein Rätsel lösen. Und Anleger stehen angesichts der Preisbewegungen in der Kryptoassetwelt vor dem Rätsel: Was sind Kryptos wirklich wert?

Das Gründungs-Rätsel der Kryptowährung Bitcoin lautet: Wer ist Satoshi Nakamoto? Die mit Abstand überzeugendste Antwort auf das Rätsel heißt aber: Nicholas Szabo, in Kooperation mit anderen als Cypherpunks bezeichneten Spezialisten. Sein etwas einsilbiger Wikipedia-Eintrag ist bilderlos und beginnt mit: „Nicholas ‚Nick‘ Szabo (* 5. April 1964) ist ein Informatiker, Rechtswissenschaftler und Kryptograph, der für seine Forschungen über Smart Contracts und digitale Währungen bekannt ist.“

Das berühmte Bitcoin-White-Paper wurde 2008 veröffentlicht, quantitative Bewertungen erfolgten 2010, Wertsteigerungen stellten sich ab 2012 ein, kurze Zeit später standen Kryptos schon im Fokus einer breiteren Öffentlichkeit, aus dem sie bisher nicht mehr verschwanden. Mit der Zeit rückten neben der möglichen Nutzung als Zahlungssysteme auch andere Funktionen der zugrunde liegenden Blockchain-Technologie in den Fokus. Obwohl es bisher für keine der massenweise sprießenden Krypto-„Währungen“ zu einer allseits akzeptierten „Währung“ gereicht hat, wurden Kryptos schnell als mögliche Geldanlage gehandelt. Daher stellte sich sehr rasch die Frage: Was ist Bitcoin, was sind Krypto-Assets unter ihrer Preishülle „wirklich“ wert?

Viele Anleger – aber nicht zwingend alle – glauben an einen positiven „wahren“ Wert von Bitcoin&Co und an die Möglichkeit, diesen auch „irgendwie“ näherungsweise berechnen zu können.

Fundamentalkritiker von Bitcoin neigen eher zu der Annahme, der „wahre“ Wert betrage null. Sie sind damit wahrscheinlich zugleich die einzigen, die den wahren Bitcoin-Wert exakt beziffern. Da generell der Preis von Geldanlagen von Erwartungen abhängt, sind aus Fundamentalkritiker-Sicht Kryptowährungen ein Gemisch aus „falschen“ Theorien über vermeintlich fundamentale Faktoren, aus historisch genährten „naiven“ Preisextrapolationen, aus Imitationsverhalten und aus spekulativen Erwartungserwartungen (Erwartungen über Erwartungen und Erwartungserwartungen der anderen Anleger).

Wieder andere Kritiker insbesondere von Bitcoin legen mit ihren Ausführungen den Schluss nahe, dass sie diesem Kryptoasset eher einen negativen intrinsischen Wert zuordnen, weil sie Bitcoin in der Summe als für die Gesellschaft schädlich erachten. Von dieser Art scheint ein Mitte Oktober 2024 veröffentlichtes Papier der beiden EZB-Ökonomen Bindseil und Schaaf zu sein, die den generellen (Anleger-)Nutzen von Bitcoin stark bezweifeln und negativ bewertete Umverteilungseffekte diagnostizieren.

Bindseil und Schaaf heben außerdem hervor, dass Bitcoin die Merkmale etablierter Finanzanlagen, insbesondere Cash Flows wie Mieten, Dividenden oder Zinszahlungen, fehlten. Infolgedessen seien etablierte Methoden zur Wertberechnung auf Bitcoin nicht anwendbar.

Gleichwohl sind für die Bewertung von Kryptowährungen verschiedene Verfahren vorgeschlagen worden. Teils auch durch Übernahme traditioneller Methoden, die Bindseil und Schaaf für Kryptos verwerfen. Dies liegt daran, dass Bindseil und Schaaf stark auf Bitcoin bzw. die Zahlungssystem-Funktion fixiert sind, während für andere Anwendungs-Kategorien der Blockchain etwa eine adaptierte Cash-Flow-Bewertung durchaus als möglich erachtet wird.

Wir stellen im Folgenden einige Wertbestimmungsmodelle auf der Grundlage zweier CFA-Booklets vor: Dem 2021 erschienene „Cryptoassets: The Guide to Bitcoin, Blockchain, and Cryptocurrency for Investment Professionals“ von Matt Hougan und David  Lawant. Und dem Ende 2023 veröffentlichen „Valuation of Cryptoassets. A Guide for Investment Professionals“ von Urav Soni und Rhodri Preece.

Bewertung von Kryptowährungen am Beispiel Bitcoin

Soni and Preece differenzieren Kryptoassets – teils unter Bezugnahme auf den Global Crypto Classification Standard – in Abhängigkeit von ihren Hauptfunktionen in drei Kategorien: a) Kryptowährungen, die darauf spezialisiert sind, Wert zu übertragen (Beispiele: Bitcoin, Litecoin, Monero oder Zcash); b) Smart Contract Plattformen, die eine bestimmte Programmierung erlauben (Ethereum, Solana, Polygon oder TRON); c) dezentrale Anwendungen, d.h. nichtzentrale Internet-Infrastrukturen, die Zugang zu Produkten und Dienstleistungen ermöglichen (Uniswap, Aaave oder Convex Finance).

Für jede dieser Unterkategorien wurden eigene Bewertungsmodelle vorgeschlagen, die sich nur zum Teil überschneiden oder miteinander ähnlich sind.

Bewertungen von Kryptowährungen am Beispiel Bitcoin

Hougan und Lawant stellen fünf aktuell diskutierte Vorschläge einer Wertbestimmung von Bitcoin vor, die einfache formale Zusammenhänge nutzen: ein Marktpotentialmodell; eine Quantitätsgleichung; ein Netzwerknutzenansatz; eine Produktionspreisberechnung; eine Knappheitsformel.

Marktpotential

Die Basis dieses Bewertungsansatzes ist das Marktpotential, das eine Kryptowährung ausschöpfen kann. Aber welcher Markt soll es sein? Die Antwort zielt in erster Linie auf die Wertaufbewahrungsfunktion von Bitcoin, und zwar eine bedingte.

Denn die gefragte Funktion ist die vermutete Eignung von Bitcoin, ein „sicherer Hafen“ in besonders stürmischen Zeiten zu sein. Hougan und Lawant legen ihren Beispielberechnungen des Bitcoins-Werts den Goldmarkt als Potential zugrunde – generell wäre dies aber auf weitere Assets mit Sicherer-Hafen-Qualität auszuweiten.

Quantitätsgleichung

Eine zweite Wertberechnung orientiert sich an der Zahlungsfunktion von Bitcoin. Der Wert eines Bitcoins wird mithilfe der klassischen Quantitätstheorie des Gelds berechnet, die auf das Segment der jeweiligen Kryptowährung angewandt wird.

Der Preis pro Bitcoin wird dementsprechend aus Geldangebot, Umlaufgeschwindigkeit, Preisniveaus der Güter und Handelsvolumen im Kryptosegment abgeleitet.

Netzwerknutzen

Eine dritte Variante interessiert sich für den Netzwerkcharakter von Kryptowährungen, speziell für den Nutzen eines Netzwerkes. Das Bitcoinsystem ist ein Netzwerk von Rechnern (Knoten), die miteinander verbunden sind (Kanten). Das ermöglicht es, Metcalfe‘s law anzuwenden. Dieses besagt, dass der Nutzen bzw. Wert eines Netzwerkes proportional zur Anzahl der Kanten (Verbindungen) oder zum Quadrat der Knoten (Bitcoin-Teilnehmer/Rechner) ist. Daraus lässt sich dann der Wert eines Bitcoins berechnen.

Produktionskosten

Bei diesem Ansatz wird der Begriff „Mining“ geradezu wörtlich genommen und Bitcoin wie ein Rohstoff behandelt, der zunächst gefördert werden muss. Der Wert eines Bitcoins ergibt sich dann aus den Grenzkosten des Minings im Verhältnis zum erwarteten Ertrag dieser Produktion; in diese Kosten geht insbesondere der Energieverbrauch bei der Schöpfung von Bitcoins ein.

Knappheit im Stock-to-flow-Modell

Hier ist die wertbestimmende Größe, nach der gesucht wird, die Knappheit des Bitcoin-Angebots. Die wird wiederum erfasst mithilfe des Stock-to-flow-Modells. Dabei wird eine Bestandsgröße (Bestand der aktuell zirkulierenden Bitcoins) ins Verhältnis gesetzt zu einer Stromgröße (jährliche Produktion von Bitcoins). Je höher der daraus errechnete Quotient ist, umso wertvoller ist Bitcoin.

Beurteilung der Bitcoin-Bewertungs-Verfahren

Hougan und Lawant sind von keiner dieser in letzter Zeit vorgeschlagenen Methoden der Wertberechnung überzeugt. Um einige ihrer Einwände anzuführen: Der Marktpotentialansatz beruhe auf problematischen Voraussetzungen und führe zu Identifikationsproblemen. Die Quantitätsgleichung habe bereits Probleme mit der Bestimmung der Geldumlaufgeschwindigkeit von Bitcoin. Der Netzwerkansatz kranke an einer inadäquaten Erfassung der Verteilungsstrukturen im Bitcoin-Netzwerk. Das Produktionskostenargument sei logisch zirkulär, weil der zu erklärende Bitcoinpreis beim Mining bereits vorausgesetzt werden müsse. Das Stock-to-Flow-Modell kranke an einer Verwischung von Kausalrelationen mit Korrelationen.

Insgesamt kommen Hougan und Lawant zu dem Schluss, dass keine dieser Bewertungsmethoden so substantiiert ist wie die Verfahren, die für klassische Anlagen mit Cash Flow entwickelt worden sind. Sie verorten Bitcoin irgendwo zwischen Rohstoff und Währung. Während Bewertungen von Rohstoffen schwierig seien, seien sie für Währungen fast unmöglich, diese könnten nur „sicher“ bepreist werden, aber nicht durchgehend vernünftig bewertet.

Zwar schließen Hougan und Lawant eine wirklich tragfähige Bewertung nicht aus, erwarten diese jedoch erst von elaborierteren Bewertungsmethoden, die derzeit noch Zukunftsmusik sind.

Wie sieht es bei den anderen Kategorien von Kryptoassets aus?

Bewertungen von Small Contracts

Bei Smart Contracts handelt sich hier um „wenn…dann…“- Programme, die in Blockchain-Code verfasst sind. Sie werden massenweisen von einem Netz von Computern ausgeführt, wenn bestimmte, vorher durch die Teilnehmer definierte Bedingungen erfüllt sind. Das kann, wie bei Bitcoin, die Freigabe von Geldern sein, das kann aber auch die Zulassung eines Fahrzeugs oder das Ausstellen eines Tickets sein.

Für Kryptos mit Smart-Contract-Funktionalität sind Soni und Preece zufolge insbesondere zwei Bewertungsmodelle vorgeschlagen worden: Erstens die Interpretation der Blockchain als Cash-Flow-Asset, zweitens die Bewertung als Netzwerk.

Im ersten Fall wird die Blockchain als ein Vermögensgegenstand, der einen Cash Flow generiert, verstanden. Der Zahlungsstrom besteht in Transaktionsgebühren. Einkommen wird bei dieser Betrachtung durch Verkauf von Block Space, der für eine Transaktion benötigt wird, generiert. Der intrinsische Wert wird durch den abgezinsten Zahlungsstrom bzw. den Discounted Cash Flow (DCF) bestimmt.

Die Bewertung als Netzwerk kann unterschiedlich erfolgen. So wie oben bei der Bitcoin-Bewertung über Metcalfe‘s law. Dabei handelt es sich um eine abstrakte Beschreibung eines Netzwerkes, die auf alle anderen Netzwerke ebenfalls angewandt werden kann und deshalb breite Bewertungs-Vergleiche erlaubt.

Es gibt aber auch Netzwerkabbildungen, die über eine Reihe von spezifischen Kenngrößen von Krypto-Plattformen erfolgen. Mit diesen Modellen können dann Smart-Contract-Plattformen miteinander verglichen werden.

Dezentralisierte Anwendungen: DeFi

Bei den dezentralisierten Anwendungen beschränken sich Soni und Preece auf einen Teilbereich, das Dezentrale Finanzwesen, kurz DeFi.

Die Bewertung von DeFi-Token gilt aufgrund der noch frühen Entwicklungsphase dieser Anwendungen als besondere Herausforderung. Da DeFi Ähnlichkeiten mit traditionellen finanziellen Geschäftsmodellen hat, erscheinen gängige Bewertungsmodelle als geeignet. Allerdings müssen die Kenngrößen auf die spezifischen Funktionalitäten dieser Kryptoassets angepasst sein. DeFi-Apps können dann auch bewertungsmäßig mit ihren traditionellen Entsprechungen verglichen werden.

Die meisten DeFi-Anwendungen generieren ihren Umsatz mit Gebühren für Dienstleistungen.

Soni und Preece stellen Bewertungsarten für den relativen und für den „absoluten“ bzw. intrinsischen Wert vor. Die relative Bewertung eignet sich für den Vergleich von DeFi-Protokollen untereinander oder noch kleinteiliger für der Vergleich der Protokolle einer Kategorie. Dabei werden unterschiedliche Kenngrößen angewandt.

Der intrinsische Wert wird auch hier über den abdiskontierten Zahlungsstrom bzw. das DCF-Modell errechnet.     

Beurteilung der Bewertung von Kryptoassets

Soni und Preece sind der Ansicht, dass aktuelle Bewertungsansätze diverse Einschränkungen aufweisen, so dass sie davon abraten, Kryptoassets allein anhand eines Modells oder einer einzelnen Kennzahl zu bewerten: stattdessen sollte man das verfügbare Spektrum nutzen. 

Noch seien die Zeitreihen bei Krypotassets zu kurz, um einen verlässlichen Modellrahmen für Bewertungsverfahren zu konstruieren.

Auch die Anwendung intrinsischer Bewertungsanalysen, die aus dem traditionellen Finanzwesen (wie dem DCF-Modell) übernommen und auf dezentrale Anwendungen oder Smart-Contract-Plattformen angepasst werden, würden durch Mangel an historischen Daten, die Abhängigkeit von Modell-Annahmen wie auch durch die schnelle Entwicklung von Kryptoassets erschwert. Das bedeutet, dass sich das Evolutionstempo von geeigneten Bewertungsmodellen an der hohen Evolutionsgeschwindigkeit in der Kryptowelt ausrichten muss. Soni Preece begrüßen daher Widerspruch und Kritik ausdrücklich, um schneller zu besseren Bewertungsansätzen zu kommen.

Trotz aller Einschränkungen böten die Bewertungs-Modelle Einblicke in die Funktionalität der jeweiligen Krypotoasset-Klassen und seien als Elemente eines gründlichen Research- und Analyseprozesses bei Anlageentscheidungen unverzichtbar.

Man fragt sich allerdings auch, ob sich mit diesen Bewertungsmodellen die eingangs angesprochenen grundlegenden Hypothesen überhaupt klären oder testen lassen. Also ob die Modelle dazu beitragen, zwischen „intrinsischem“ Wert (langfristiger Attraktor für Erwartungen) und spekulativen (vom langfristigen Attraktor stark abweichenden, von diesem aber destabilisierten) Bepreisungen trennscharf unterscheiden zu können. Oder benötigt man dazu ein geeignetes übergeordnetes Modell?

Soros hat beispielsweise in den 80er Jahren seine Reflexivitätstheorie zunächst an Boom-Bust-Fallbeispielen entwickelt, in denen sich üblicherweise als fundamental verstandene Messgrößen ab einer bestimmten Ausprägung (z.B. Gewinnhöhe) als allein abhängig von Markterwartungen erwiesen, nachdem sie zunächst den ersten „Fundamentaltest“ bestanden hatten. Beim zweiten fielen sie durch: das war der Crash. Um dies abzubilden, müsste demnach ein Bewertungs-Modell zugrunde gelegt werden, das Bewertungs-Modelle, -Vorstellungen und -Erwartungen selber enthält und diese mit „fundamentalen Größen“ eventuell im Rahmen einer Hierarchie der „Fundamente“ verkoppelt.

Möglich wäre aber auch, dass sich die Frage „spekulativ oder nicht?“ prospektiv gar nicht entscheiden lässt.

Zusammenfassend kann man wohl sagen: Für das eingangs formulierte Kryptorätsel „was sind Kryptos wert“ hat noch niemand wirklich eine überzeugende Lösung gefunden, die Frage „spekulativ oder nicht?“ harrt gleichfalls der Klärung, aber das Bewertungsproblem ist nicht ohne Lösungsansätze. Man könnte auch sagen: man ist auf gutem Weg zu einem Ziel, das immer ein gutes Stück weiterwandert. 

Link zu: „Cryptoassets: The Guide to Bitcoin, blockchain, and cryptocurrency for Investment Professionals“

Link zu: “Valuation of Cryptoassets: A Guide for Investment Professionals”

Link zu: “The distributional consequences of Bitcoin”